'Müssen'

Stichwort Müssen
"Nomen est Omen"
Mein Nachname "Müssen" hat mir noch nie wirklich Freude bereitet. Seit meiner Kindheit hat er die spöttische Kreativität anderer angeregt.
Seit einigen Jahren benutzt eine Firma, die ein Prostatapräparat herstellt, den Slogan "WENIGER MÜSSEN MÜSSEN!"
Das erscheint mir aus psychologischer Sicht durchaus als sinnvolles Motto. Inzwischen nutze ich meinen Namen als Erinnerung daran, in Beratung und Therapie mit meinen Klient*innen gegen ein fremdbestimmtes "Ich muss ..." an einem selbstbestimmten "Ich kann ..." oder "Ich will ..." zu arbeiten.
Lessing lässt seinen Nathan den Weisen in diesem Sinne aussprechen: "Kein Mensch muss müssen."
Gerne stelle ich Ihnen an dieser Stelle einige Gedanken zum "Müssen"
von Prof. Johannes Herwig-Lempp mit dessen freundlicher Genehmigung vor:

Johannes Herwig-Lempp: Stich-Wort 'Müssen'
„Du musst endlich mit dem Rauchen aufhören.“ „Sie müssen sich an die getroffenen Abmachungen halten.“ „Sie müssen schon einsehen ...“ Wir verwenden gerne das Wort müssen. Es suggeriert etwas Wichtiges und Richtiges – so als ob es eigentlich gar keine andere Möglichkeit mehr gebe. Die Verwendung dieses kleinen modalen Hilfsverbs soll genau auf diese eine, scheinbar unabwendbare Handlungsoption hinführen – und alle anderen Möglichkeiten beiseite wischen. Im Idealfall kommt es dann dem Gegenüber so vor, als ob ihm gar keine Wahl mehr bliebe.

Manchmal gelingt das auch, der andere wird überrumpelt und kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass er noch andere Möglichkeiten hat – etwa sich über die Abmachungen hinwegzusetzen, sie noch einmal zu verhandeln oder sie (bzw. die Art, wie sie zustande gekommen sind) auch im Nachhinein in Frage zu stellen. Oder er vergisst, dass er eigentlich gar nichts einsehen muss, dass er sich weigern kann oder eine ganz andere eigene Meinung haben kann.

Wenn wir müssen verwenden, wollen wir die Anzahl der erkennbaren Wahlmöglichkeiten soweit wie möglich einschränken – indem wir so tun, als ob es keine Alternativen gibt. „Müssen“ klingt, wenn wir es nicht ganz ungeschickt platzieren, schon fast zwangsläufig, nahezu „objektiv“: es lässt eigentlich keinen Handlungsspielraum mehr zu.

Wenn wir Pech haben, könnte es aber auch das genaue Gegenteil bewirken, zum Widerstand, und zum Aufbegehren geradezu herausfordern und Widerspruchsgeist erst wecken: „Ich muss gar nichts!“ Solange wir selbst das müssen verwenden, erscheint es uns natürlich richtig.
Erst wenn wir auf Geheiß anderer etwas müssen sollen, erfahren wir die Macht dieses kleinen Wörtchens und die damit versuchte Nötigung: Wir fühlen uns dann eingeschränkt, bevormundet, eingeschüchtert, in unserer Autonomie und Selbständigkeit behindert. Nur in den seltensten Fällen zeigen (und fühlen) wir uns einsichtig.

Sie können sich und andere einmal darauf hin beobachten, wie oft müssen, muss und müsste von ganz selbstverständlich verwendet wird: sehr viel öfter, als Sie denken. Dabei lässt es sich leicht ersetzen. Denn müssen ist nur eines der modalen Hilfsverben, andere sind sollen, wollen, dürfen und können.

Gerade können bewirkt, an Stelle von müssen (und vielleicht auch noch in der Verbindung mit einem Konjunktiv, also der Möglichkeitsform) verwendet, eine Erweiterung statt einer Begrenzung des erkennbaren Handlungsspielraums: “Du könntest mit dem Rauchen aufhören ...“, „Sie können sich an die Abmachung halten ...“, „Sie könnten mir zustimmen ...“

Das Können weist darauf hin, dass auch andere Verhaltensweisen möglich sind, es führt sie zumindest indirekt, als Möglichkeiten, ein. Systemtheoretisch ausgedrückt, eröffnet können Kontingenz, wohingegen müssen sie versucht auszuschließen. Die Verwendung von können erweitert die erkennbare Anzahl der Handlungsoptionen.

Wenn ich den Handlungsspielraum meines Gesprächspartners erweitern will (bzw. ihn und mich daran erinnern möchte, dass er über diesen Handlungsspielraum verfügt), seine Autonomie und Selbständigkeit respektieren und vielleicht sogar betonen will, kann ich können statt müssen verwenden. Können lässt sich als Einladung verstehen: „Du musst nicht, du kannst.“ Einladungen darf man auch ausschlagen, man ist so frei.

Dies gilt übrigens auch für den Umgang mit sich selbst, auch uns selbst gegenüber können wir respektvoll sein und uns noch die Wahl lassen – „Ich könnte mal wieder auf eine Fortbildung gehen ... Sport machen ... mich an die Abrechnungen setzen ...“ Wie vorwurfsvoll-befehlend hingegen „Ich muss endlich ...!“ klingt, abgesehen davon, dass man sich durch diese Aufforderung an sich selbst nicht unbedingt Lust macht, sondern eher Vorarbeiten für ein schlechtes Gewissen leistet (was bekanntlich auch nur stört und niemandem wirklich nützt).

„Du musst nicht, du kannst.“ Vielleicht fällt Ihnen ja manchmal auch auf, dass Sie mit einem Können mehr erreichen könnten als mit einem Müssen – und dass das eine das andere ersetzen könnte.

Johannes Herwig-Lempp: Stich-Wort: Müssen
erschienen in: KONTEXT 4/2003, Bd. 34
Text als PDF-Datei

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