Das Tripelpendel - Ein Gleichnis für die Unberechenbarkeit des Lebendigen
von Ulrich Hausa
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"Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Wirklichkeitserfahrung: Was können wir wirklich wissen?" Unter diesem Titel fand am 20.09.1999 am ISS ein Kolloquium statt, welches m.E. zu den aufregendsten gehörte, die ich miterlebt habe.
Das lag zunächst am Referenten selbst: Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Kernphysiker, Elementarteilchenkenner, einstiger wissenschaftlicher Mitarbeiter Werner Heisenbergs, jener historischen Größe der Welt der Physik, die wir mit dem Begriff der "Unschärferelation" in Verbindung bringen. Prof. Dürr, ehemaliger Direktor des Max-Planck.Instituts für Physik und Astrophysik war also ein naturwissenschaftlich hochkarätig ausgewiesener Gast, der aber auch über andere gesellschaftlich relevante Fragen publiziert hat, etwas über die Verantwortung des Wissenschaftlers, über Abrüstung und Friedenssicherung, Energie, Ökologie und Ökonomie, Entwicklung und Gerechtigkeit. Darüber hinaus war er ausgewiesen als Träger vieler Ehrungen, u.a. des "Right Livelihood Award 1987", eine Auszeichnung, die auch als "Alternativer Nobelpreis" bekannt ist.
War also schon mit der Person des Referenten eine große Neugierde verbunden, so war es darüber hinaus das Thema selbst, welches viele Erwartungen weckte, die m.E. durch diese Veranstaltung hervorragend bedient wurden.
Sie hat zudem, wie regelmäßige Besucher der Räume des ISS bestätigen werden, eine bleibende Spur hinterlassen: das Tripelpendel! Eine mobile Skulptur, von der eine große Faszination auszugehen scheint, folge ich der Beobachtung, wie häufig sie von Gästen, Weiterbildungsteilnehmern und Mitarbeitern des ISS in Bewegung gesetzt wird.
Wenn ich hier nun den notwendigerweise bescheidenen Versuch mache, einige Erkenntnisse des Kolloquiums mit Prof. Dürr zu vermitteln, so soll das Tripelpendel im Mittelpunkt stehen, stellt es doch einen beeindruckenden Versuch dar, das moderne Weltbild der Physik zu visualisieren, ein sinnliches Erlebnis damit zu verknüpfen, speziell im Hinblick auf die prinzipielle Unberechenbarkeit des Lebendigen. Und das ist es ja wohl, mit dem wir - im psychosozialen Phänomenbereich Tätige - täglich konfrontiert sind.
Die klassischen Naturwissenschaften, so Prof. Dürr, lehren uns, dass der Natur eingeprägte Bewegungsgesetze bei Kenntnis der Ausgangssituation eines Systems uns erlauben, seine zukünftige zeitliche Entwicklung zu errechnen. Die Himmelsmechanik gibt uns dafür ein eindrucksvolles Beispiel:
So führen die Newtonschen Bewegungsgesetze materieller Körper aufgrund des Gravitationsgesetzes, das die anziehende Kraftwirkung zweier Massen aufeinander beschreibt, zu einer eindeutigen Bestimmung der Bahn der Erde um die Sonne, nämlich einer Keplerschen Ellipsenbahn, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Die sprichwörtliche Gewissheit, mit der wir jeden Morgen präzise mit dem Aufgang der Sonne glauben rechnen zu können, ist für uns paradigmatisch für die zwingende Notwendigkeit naturgesetzlicher und damit errechenbarer Bewegungsabläufe. Sie haben unser abendländisches Denken tiefgreifend beeinflusst und unsere westliche Zivilisation entscheidend geprägt, bis hin zu den mathematischen Fundamenten unseres Wissens.
Die Mathematiker sind berüchtigt dafür, es ganz genau zu nehmen und einen unumstößlichen Beweis zu verlangen, bevor sie eine Aussage als wahr anerkennen. Eine Anekdote bringt dies auf den Punkt:
Ein Astronom, ein Physiker und ein Mathematiker machten einst Ferien in Schottland. Vom Zugfenster aus sahen sie inmitten einer Wiese ein schwarzes Schaf stehen. "Wie interessant", bemerkte der Astronom, "alle schottischen Schafe sind schwarz!" Darauf antwortete der Physiker: "Nein, nein! Einige schottische Schafe sind schwarz!" Der Mathematiker rollte seine Augen flehentlich gen Himmel und verkündete dann: "In Schottland gibt es mindestens eine Wiese mit mindestens einem Schaf, das mindestens auf einer Seite schwarz ist."
Diese prinzipielle Möglichkeit einer Vorhersage zukünftigen Geschehens auf der Basis einer vorgegebenen Ausgangssituation hat, trotz obiger Verfremdung, nichts von ihrem Reiz, d.h. von ihrer praktischen Relevanz verloren. Mit ihr, so Prof. Dürr, bietet sich nämlich die Chance durch ein geeignetes Arrangement von Teilen eines Systems und ihren kräftemäßigen Verknüpfungen hier und jetzt, dem System einen ganz bestimmten, von uns erwünschten Bewegungsablauf in Raum und Zeit aufzuzwingen. Dies scheint dem Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich von den Zwängen der Natur weitgehend zu befreien und letztendlich diese durch Technik "in den Griff" zu bekommen. Die Entwicklungen der Gentechnologie sind nur ein jüngstes Beispiel für diesen "Zugriff" auf die Welt des Lebendigen und stützen jene, in weiten Teilen der Gesellschaft ungebrochene Überzeugung, dass aufgrund menschlicher Phantasie letztlich alles machbar sei.
Diese scheinbar so harmlose Forderung einer exakten Kenntnis der Naturgesetze, so Prof. Dürr, erwies sich jedoch in der Folge zur großen Überraschung der Naturwissenschaftler als prinzipiell unerfüllbar. Ausgerechnet die Mathematiker mit ihren streng logischen Prinzipien der Wahrheitsfindung trugen mit zu dieser Desillusionierung bei.
Es war im Jahre 1902 der englische Logiker Bertrand Russell, der eine verheerende Entdeckung machte: das Paradoxon! Seine Arbeit fügte dem Traum von einem mathematischen System ohne Zweifel und Widersprüche unermesslichen Schaden zu. Viele Wissenschaftler stellten Russells Arbeit in Frage und behaupteten, die Mathematik sei ein offensichtlich erfolgreiches und fehlerfreies Unternehmen. In seiner Antwort darauf erläuterte der spätere Nobelpreisträger die Bedeutung seiner Arbeit:
"Nun", können Sie sagen, "nichts davon erschüttert meine Überzeugung, dass 2 und 2 zusammen 4 ergibt". Da haben Sie völlig recht, außer in Grenzfällen - und nur in Grenzfällen zweifeln Sie daran, ob ein bestimmtes Tier ein Hund ist oder eine bestimmte Länge weniger als ein Meter ist. Zwei müssen zwei von etwas sein, und die Aussage "2 und 2 ergibt 4" ist nutzlos, wenn sie nicht angewandt wird. Zwei Hunde und zwei Hunde sind gewiss vier Hunde, doch es gibt Fälle, in denen Sie zweifeln, ob zwei davon Hunde sind. " Nun, jedenfalls handelt es sich um Tiere", könnten Sie sagen. Doch es gibt Mikroorganismen, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie Tiere oder Pflanzen sind. "Gut, dann lebende Organismen", könnten Sie sagen. Doch es gibt Dinge, bei denen in Frage steht, ob sie leben oder nicht. Sie werden dann unweigerlich sagen: "Zwei Entitäten und zwei Entitäten sind vier Entitäten." Wenn Sie mir erklären, was Sie mit "Entität" meinen, können wir die Diskussion fortsetzen.
Zu allem Überfluss kam 1931 der damals unbekannte, fünfundzwanzigjährige Mathematiker Kurt Gödel mit einer Erkenntnis über die "Unentscheidbarkeit" daher, welche bewies, dass der Versuch, ein vollständiges und widerspruchsfreies mathematisches System zu errichten, für immer zum Scheitern verurteilt sei.
Gödels Arbeiten hatten viele Züge mit ähnlichen Entdeckungen in der Quantenphysik gemein. Nur vier Jahre bevor Gödel seinen Artikel zur Unentscheidbarkeit veröffentlichte, entdeckte der Physiker Werner Heisenberg die schon erwähnte Unschärferelation. Wie es in der Mathematik eine bestimmte Grenze für die Beweisbarkeit von Sätzen gibt, gibt es auch in der Physik eine bestimmte Grenze für die Messbarkeit bestimmter Eigenschaften. Wollen die Physiker zum Beispiel die genaue Position eines Gegenstandes bestimmen, können sie dessen Geschwindigkeit nur mit relativ geringer Genauigkeit bestimmen. Um nämlich die Position des Gegenstandes zu messen, müsste man ihn mit Lichtphotonen beleuchten, und um seine Position exakt zu bestimmen, müssten die Photonen mit hoher Energie versehen sein. Wird der Gegenstand allerdings mit solchen Photonen beschossen, ändert sich seine Geschwindigkeit und wird an und für sich unbestimmbar. Würden die Physiker die Position eines Gegenstandes bestimmen wollen, müssten sie ihr Wissen um seine Geschwindigkeit daher zum Teil aufgeben.
Heisenbergs Unschärferelation kommt nur in atomaren Dimensionen zur Geltung, dort, wo die Hochpräzisionsmessungen entscheidend sind. Für die von uns direkt wahrgenommene Welt, so Prof. Dürr, ergab sich jedoch eine ähnliche Konsequenz viel unmittelbarer durch die Entdeckung des "chaotischen" Verhaltens von non-trivialen Systemen i.S. Heinz von Foersters. Bei diesen lässt sich die Eigentümlichkeit beobachten, dass kleine Änderungen in der Ausgangssituation dieser Systeme im Allgemeinen nicht zu entsprechend kleinen Abweichungen in der vorhergesagten Endkonfiguration führen, sondern dass radikal andere Endzustände auftreten. Dieses unerwartete Verhalten stellt eher die Regel als die Ausnahme dar. Dies führt z.B. dazu, dass wenn das uns wohlbekannte System Sonne-Erde durch einen dritten Körper, etwa den Mond, ergänzt wird, eine Situation auftritt, die streng genommen nicht mehr berechenbar ist. Dieses klassische "Drei-Körper-Problem" ist nach den Untersuchungen von 1889 durch den französischen Universalgelehrten Henri Poincaré‚ - in Beantwortung einer Preisfrage der schwedischen Akademie der Wissenschaften - nicht mehr mathematisch lösbar. Das bedeutet offenkundig aber nicht, dass es zu einer Destabilisierung der Erdumlaufbahn kommt. Es scheint bestimmte Konfigurationen des "Drei-KörperSystems" zu geben (wenn man gläubig ist, könnte man bei dieser Einsicht "Gott sei Dank!“ ausrufen), die sich leidlich stabil zeigen; immerhin bewegt sich die Erde seit viereinhalb Milliarden Jahren auf die nämliche Weise. Diese Erkenntnis bedeutet aber wiederum nicht die Gewissheit auf Stabilität für alle Zeit. Wir dürfen lediglich hoffen!
Um diese prinzipielle Unberechenbarkeit nun anschaulich, sinnlich nachvollziehbar zu machen, verbietet es sich natürlich, mit dem Sonnensystem zu spielen. Um dennoch zu spielen, gibt es ein einfaches mechanisches System, das man sich zu Hause oder im ISS auf den Tisch stellen kann: Das physikalische Doppelpendel!
Ein Doppelpendel ist ein Pendel an einem Pendel, das durch seine Aufhängung und das Schwerefeld mit der Erde kräftemäßig verbunden ist. Im Gegensatz zum Sonne-Erde-MondDrei-Körper-System läuft das Doppelpendel allerdings nicht reibungslos, weshalb es nach einiger Zeit allein zum Stillstand kommt. Diesem Mangel kann man etwas abhelfen, wenn man das Doppelpendel nochmals an einem größeren dritten Pendel aufhängt, wodurch dem Doppelpendel eine Zeit lang noch zusätzliche Bewegungsenergie zugeführt wird und damit seine Reibungsverluste etwas kompensiert werden. Das so entstandene Tripelpendel ist also eine Analogie zu einem Vier-Körper-System, etwas Sonne-Erde-Mond-Venus.
Wie alle, die es schon mal ausprobiert haben (und allein dafür lohnt es sich, dem ISS mal wieder einen Besuch abzustatten), bestätigen werden, ist das genügend stark angeworfene Tripelpendel ein eindrucksvolles Beispiel für einen unberechenbaren, "chaotischen" Bewegungsablauf. Aufgrund der Reibung in den Drehlagern und der Pendelarme mit der Luft zeigt sich unser Objekt des Interesses, die "Unberechenbarkeit" nämlich, natürlich nur in Zwischenzeiten. Letztlich kommt das Tripelpendel auch bei stärkster Auslenkung immer in der unteren, einzig stabilen Lage zur Ruhe.
Das chaotische Bewegungsverhalten des Tripelpendels, so erklärt nun Prof. Dürr, ist einsichtig. Es hat mit der "Nichtlinearität" der Kräfte beim "Physikalischen Pendel" zu tun. Anders als bei den sogenannten "streng harmonischen" Schwingungen (etwa eine Masse an einer Spiralfeder), wächst beim physikalischen Pendel die rücktreibende Kraft proportional zum Sinus des Auslenkungswinkels w. Bei maximalem Ausschlag (Kopfstand des Pendels) verschwindet folglich dort die rücktreibende Kraft, so dass man schließen kann, ein physikalisches Pendel hat zwei Gleichgewichtslagen: Ruhestellung (=stabil) und Kopfstand (=instabil). Es sind solche Instabilitätspunkte, welche zu einem chaotischen Bewegungsverhalten führen. An solchen Punkten ist eine Prognose für ein zukünftiges Verhalten unmöglich zu treffen. Beliebig kleine Veränderungen der Anfangslage führen zu höchst unterschiedlichen Bewegungsabläufen. Das Tripelpendel durchläuft immer wieder verschiedene Instabilitätspunkte und ist damit Bifurkationen ausgesetzt, die beim theoretisch reibungslosen Fall unendlich oft durchlaufen würden und zur Unberechenbarkeit seines Bewegungsablaufes führten.
An diesen Instabilitätspunkten wird nun augenfällig deutlich, dass sich kein System vom Rest der Welt (also auch vom beobachtenden Experimentator) und seinen verschiedenen Einflüssen trennen lässt.
Mit einem einfachen Experiment wird somit der ganzheitliche Charakter des Geschehens visualisiert: Alles hängt mit allem zusammen! Das Tripelpendel verschafft einen Einblick in das tiefere Gefüge unserer Welt.
Wegen der unvermeidbaren Reibungsverluste - oder, wie Prof. Dürr allgemeiner formuliert, des stetigen Anwachsens der Entropie - kann das Tripelpendel nur vorübergehend in der chaotischen Bewegungsphase gehalten werden. Wollte man die Offenheit der Bewegung über längere Zeit aufrecht erhalten, müsste man dem System dauernd Energie (=negative Entropie oder Syntropie) zuführen, wodurch es am Rückfall in den stabilen Gleichgewichtszustand gehindert würde. Solche syntropiegefütterten offenen Systeme spielen in der Natur eine wichtige Rolle: Sie sind die Grundlage des Phänomens des Lebendigen!
Das Tripelpendel darf also als Symbol für die Offenheit zukünftigen Geschehens gelten, ähnlich wie wir im psychosozialen Phänomenbereich Tätigen es durch die uns aufsuchenden Menschen täglich erfahren. Deren Lebendigkeit ist demnach nicht einfach Ausdruck einer hochkomplizierten Struktur, deren prinzipielle Einfachheit für uns nur noch nicht durchschaubar ist (s. auch Luhmanns Konzept der Kontingenz). Lebendigkeit, so Prof. Dürr, ist vielmehr gleichbedeutend mit Unberechenbarkeit, was wiederum nicht Willkürlichkeit bedeutet. Das Auftreten bestimmter Muster in verkoppelten chaotischen Systemen spricht dagegen.
Das Tripelpendel kann aber in seinem Bewegungsverhalten völlig berechenbar werden; und zwar dann, wenn wir ihm seine Freiheitsgrade rauben (z. B. Arretierung der Unterpendel mit dem Hauptpendel). Es wird auch berechenbar, wenn wir ihm nicht die nötige Mindestenergie zukommen lassen; wir hindern es somit an seiner "lebendigen" Entfaltung, dem Durchlaufen instabiler Bifurkationspunkte nämlich.
Hier wird, Prof. Dürr folgend, wieder die Analogie zum Lebendigen deutlich: Alle Lebewesen, auch wir Menschen, eingeschlossen die menschliche Gesellschaft, sind als Systeme beschreibbar, welche weit weg vom stabilen (thermodynamischen) Gleichgewichtszustand operieren. Für deren Offenheit und strukturelle Plastizität wählt Prof. Dürr das Tripelpendel als Gleichnis.